Dieses Werk, das in der zeitgenössischen Dramaturgie einer Revolution gleichkommt, ist eines der rätselhaftesten Stücke, die je geschrieben wurden. Man weiß nicht, an welchem Ort sich die Figuren befinden, wir kennen ihre Biografien nicht, wissen weder, was sie wollen, noch, unter welchen Umständen sie agieren.
Dieses Stück brach alle Regeln der Dramaturgie. Es gibt keine Handlung, die Figuren haben keine Vergangenheit, und die Geschichte kommt nicht voran. Die Fakten wiederholen sich ständig, sie drehen sich im Kreis, und am Ende befinden sich die Figuren im selben Zustand wie am Anfang.
Zunächst bietet uns der Autor einen undefinierten Raum. Eine leere Bühne mit einem verfaulten Baum ohne Blätter. Eine Art apokalyptisches “Nichts”.
Es ist schwer, zu entziffern, ob die Tatsache, dass der Baum zu Beginn des zweiten Aktes grüne Blätter hat, als Zeichen der Hoffnung zu deuten ist.
Sowohl Vladimir als auch Estragon sind Personen ohne Identität, ohne Orientierung; sie sind in der Welt verloren. Sie haben keine Vergangenheit und können sich kaum an einige Tatsachen erinnern, ohne sich sicher zu sein, dass diese tatsächlich so geschehen sind. Wir wissen nicht einmal genau, ob sie sind, was sie zu sein vorgeben, denn sie reagieren auf verschiedene Namen. Wladimir reagiert auch auf den Namen Albert, und Estragon nennt sich selbst Catull. Wladimir wird aber auch Didi genannt, und Estragon hört auf Gogo.
Sie scheinen Personen zu sein, die von sich selbst und von ihrer Geschichte getrennt sind, und die einzige Hoffnung, die sie am Leben erhält, ist die Ankunft von Godot, der ihnen anscheinend auf materielle Art helfen kann, indem er ihnen etwas zu essen und zu trinken und einen trockenen Schlafplatz bietet.
Zwischen Pozzo und Lucky kommt es zu einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit. Lucky erhält Essen von Pozzo, und sein Diener führt ihn, als er im zweiten Akt seine Sehkraft verliert. Nie erkennt man bei Lucky irgendein Zeichen von Auflehnung. Alle akzeptieren ihre Lage, so elend diese auch sein mag, und sie versuchen nicht, etwas daran zu ändern. Pozzo empfindet enorme Genugtuung, wenn er seine Macht über Lucky ausübt, indem er ihn misshandelt, ihn wie ein Tier an der Leine führt und ihn, zum Vergnügen von Wladimir und Estragon, tanzen und denken lässt. Auch Pozzo scheint verschiedene Identitäten anzunehmen. Er wird nicht nur mit Godot verwechselt, sondern auch Abel oder Kain genannt.
In den Monologen, in denen Lucky “denkt”, gibt er uns Hinweise auf seine jetzt im Zerfall begriffene intellektuelle Vergangenheit, und im zweiten Akt verstummt er für immer und hat nur noch eine rudimentäre Existenz.
Noch weniger wissen wir über den, der dem Stück seinen Titel gibt. Obwohl er Boten schickt, um mitzuteilen, dass er nicht wie versprochen auftauchen wird, wissen wir nicht, um wen es sich da handelt. Wir wissen, dass er eine Schafherde besitzt und Verabredungen aufschiebt. Oft lässt uns sein Nicht-Erscheinen an seiner Existenz zweifeln.
Auch Wladimir und Estragon zweifeln an seiner Existenz. Folgender Dialog ist repräsentativ:
ESTRAGON: Wir finden doch immer was, um uns einzureden, dass wir existieren, nicht wahr, Didi?
WLADIMIR: (ungeduldig) Ja, ja, wir sind Zauberer.
Obwohl sie ständig wiederholen: “Gehen wir”, können sie nicht aufbrechen. Weder im Sinne von etwas zu tun und sich auf den Weg zu machen, noch im Sinne des Verlassens dieser Welt. Diesbezüglich gibt es einige Selbstmordversuche, die immer wieder im Nichts enden.
Zeit und Raum existieren nicht für unsere Figuren. Seit wann warten sie schon? Wann haben sie sich mit Godot verabredet? Seit wann kennen sich Wladimir und Estragon? Wie alt sind sie? Was haben sie früher gemacht?
Hier kommen eine Frage auf, die entscheidend ist, wenn man sich mit diesem Stück auseinandersetzt. Ist es legitim, anhand der Inszenierung, diese Leere mit gewissen Umständen zu füllen, oder ist sie Teil der Amnesie, unter der die Figuren leiden? Oder vergessen sie, weil sie sich von einer traumatischen Vergangenheit lösen wollen?
ESTRAGON: Aber an welchem Samstag? Ist denn heute Samstag? Kann nicht auch Sonntag sein? Oder Montag? Oder Freitag? Oder Donnerstag?
ESTRAGoN: Stand er gestern nicht da?
WLADIMIR: Na klar! Erinnerst du dich nicht? Um ein Haar hätten wir uns an ihm aufgehängt. […] Aber du wolltest nicht. Erinnerst du dich nicht daran?
ESTRAGON: Das hast du geträumt.
Ein Tag im Leben von Gogo und Didi gleicht dem Tag davor. Sie warten auf Godot, oder sie wollen aufbrechen, obwohl sie es nicht tun, oder sie beschliessen, sich umzubringen, obwohl sie auch das nicht zu Ende bringen.
Vielleicht ist die Zeit ihr großer Konflikt. Die Zeit wird ein Gegenspieler, der sie ständig bedroht. Bei Didi und Gogo ist es die Trostlosigkeit des Wartens, und bei Pozzo und Lucky der körperliche und geistige Verfall.
Keiner von ihnen findet eine Heimat, denn die Welt ist ein feindseliges Etwas geworden, das nicht in der Lage ist, sie zu beherbergen. Am Ende beginnt alles wieder von vorn. Obwohl sie anscheinend noch Dieselben sind, haben sie das Warten erlebt, etwas, womit sich jeder Mensch identifizieren kann, weil wir dies täglich tun.