Blog 26 „Sechs Personen suchen einen Autor“ von Pirandello

Der Einbruch der Realität in die Fiktion (oder der Fiktion in die Realität)

Es dürfte schwierig sein, in der Weltliteratur des Theaters eine vollständigere philosophische Abhandlung als Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ zu finden. Darin wird gezeigt, wie das Theater auf Handlung, Aktion und Spannung verzichtet, um sich ganz der Unterscheidung der Ebenen von Realität und Fiktion zu widmen, die das Theater als solches ausmachen. Das Stück ist eine philosophische Reflexion über Lüge und Wahrheit, Fiktion und Realität.

Während eine Theatertruppe Pirandellos Stück „Seine Rollen spielen“ probt, tritt eine weitere Gruppe von sechs Personen auf, die alle dem Geist ihres Autors entsprungen sind, der sein Werk nie zu Papier gebracht hatte. Solange die Figuren nicht dargestellt werden, haben sie keine Identität. Aber das, was sie erlebt haben, erlaubt es ihnen, sich als echt, wahr und authentisch zu betrachten, im Gegensatz zu den Schauspielern, die die Realität der Figuren durch die Falschheit ihrer Kunst entstellen.

DIREKTOR Sehr schön das alles … aber was wollen sie nun eigentlich hier?
VATER Leben wollen wir, Herr Direktor!
DIREKTOR (ironisch) Ewig?

VATER Nein, Herr Direktor. Aber wenigstens für einen Augenblick, in Ihnen.
EIN SCHAUSPIELER Sieh mal an!
1. SCHAUSPIELERIN In uns wollen sie leben!

DER DIREKTOR Alles, was Sie sagen, ist gut! Aber was wollt ihr hier? DER VATER: Wir wollen leben, Herr Direktor!
DER DIREKTOR: (Ironisch.) Für alle Ewigkeit?
DER VATER. Nein, mein Herr. Wenigstens für einen Moment, durch Sie. EIN SCHAUSPIELER: Wie witzig!

DIE ERSTE SCHAUSPIELERIN: Sie wollen in uns leben!

Diese erste Situation gibt uns einen Hinweis auf die Dringlichkeit dieser Figuren. Wenn sie nicht dargestellt werden, geraten sie in Vergessenheit, als ob sie nie existiert hätten. Ihr Leben hängt von einer Gruppe von Schauspielern ab, die sie in ihrer Fiktion real machen würden, obwohl sie eigentlich einen Filter darstellen, der ihnen die Realität entzieht.

Nach langem Zögern beschließt der Regisseur schließlich, die Geschichte dieser Figuren aufzuführen. Doch was für die Gruppe von Eindringlingen eine große Genugtuung zu sein scheint, verwandelt sich in einen Albtraum.

VATER Ja, Herr Direktor – aber glauben Sie mir, es wirkte in der Tat sehr komisch.
DIREKTOR Komisch? Wieso komisch?
VATER Ich bewundere Ihre Schauspieler, Herr Direktor, ich bewundere sie – der Herr da zeigt auf den ersten Schauspieler und die Dame zeigt auf die erste Schauspielerin- … aber wirklich, das sind doch nicht wir! DIREKTOR Kunststück! Wie sollen sie denn „Sie“ sein – wenn es doch Schauspieler sind!
VATER Eben, Schauspieler. Sie spielen unsere Rollen gut, alle beide. Aber glauben Sie mir, uns kommt es vor wie etwas ganz anderes. Es möchte das Gleiche sein und ist es eben nicht.

DIREKTOR Wieso nicht? Was ist es denn sonst?

VATER Es… es ist jetzt Ihre Sache und nicht mehr unsere.
DIREKTOR Aber das ist doch ganz natürlich. Das habe ich Ihnen ja schon gesagt.

Die Figuren verstehen den Unterschied nicht zwischen „Wahrheit“ und „Wahrhaftigkeit“, zwischen „Dokumentation“ und „poetischer Freiheit“, zwischen „Realität“ und „dem Realen unter den Bedingungen der Szene“. Ich erinnere mich, dass ich vor einigen Jahren die niederländische Autorin Suzanne van Lohuizen beauftragte, ein Stück über Che Guevara mit dem Titel „Mein Vater Che Guevara“ zu schreiben. Der Ausgangspunkt der Handlung war folgender, nämlich dass eine seiner Töchter, das Erschießungskommando in Bolivien unterbrach und ihrem Vater eine Reihe von Fragen stellte, unter anderem, warum er losgezogen war, um für das Glück anderer Kinder in der Welt zu kämpfen, nachdem er seine eigenen verlassen hatte.
Als ich seine Tochter zur Premiere nach Zürich einlud, bat sie mich darum, das Stück zu lesen. Über die kubanische Botschaft erhielt ich später einen Brief, in dem sie die vielen Unwahrheiten in dem Stück auflistete, aber wesentlich war, dass die Tochter ihren Vater nie in Frage gestellt und sich nie verlassen gefühlt hatte. Unsere Absicht bei der Entwicklung des Stücks war es, einen inneren Konflikt in die Figur des Che einzuführen, dem es bei aller Integrität und Konsequenz ausgerechnet daran mangelte. Ich hatte den Eindruck, dass die Tatsache, dass die Tochter das Erschie- ßungskommando unterbricht, den Zuschauer auf die Ebene der Fiktion versetzte. Später wurde mir klar, dass dies vielleicht für mich als Profi der Fiktionen gilt, aber nicht für sie als reale Figur.

DIREKTOR Gib mir noch ein bisschen Himmel.
BÜHNENARBEITER Was?
DIREKTOR Ein bisschen Himmel! Ein Stückchen Hintergrund … hinter dem Becken!

Pirandellos Stück behandelt eines der erschütterndsten Themen des Theaters: das Thema der Wahrheit. Sobald wir eine erlebte Anekdote erzählen, verfälschen wir sie. Sobald wir eine Figur vor einem Publikum darstellen, verliert diese die Echtheit des Lebens und sie wird zur Wahrheit der Bühne.

Am Ende des Stücks erschießt sich eine der Figuren, „der Junge“, selbst.

SCHAUSPIELER (voller Trauer) Er ist tot, der arme Junge, er ist tot, mein Gott!
1 SCHAUSPIELER (lachend) Oh nein – tot! Es ist alles ein Spiel! Es ist alles ein Spiel! Glaubt es nicht.

SCHAUSPIELER Spiel? Realität! Realität! Er ist tot!
ANDERE SCHAUSPIELER Nein – Spiel! Es ist alles ein Spiel!

VATER Nein – kein Spiel! Wirklichkeit! Die Wirklichkeit.

Vielleicht geht es in Pirandellos Stück um etwas Komplexeres und Tieferes: die Wahrheit als eine nicht existierende Kategorie.

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