Im Jahre 1986 nahm ich in Berlin an einem Seminar über Theaterregie teil, das von dem russischen Regisseur Juri Ljubimow, vom Moskauer Theater Taganka, geleitet wurde. Da Heiner Müllers Version des „Hamlet“ benutzt wurde, kam dieser persönlich vorbei, um an dem Kurs teilzunehmen. An diesem Tag hatte man den Stundenplan geändert. Ich probte gerade die Szene mit den Totengräbern. Nachdem wir Heiner Müller darüber informiert hatten, dass das Seminar zwei Stunden später beginnen würde, beschloss er, zu bleiben, um sich unsere Arbeit anzusehen. Nach fünf Minuten begann er, uns Hinweise zu geben. Wir probten mit den Figuren im Ton von Clowns, sehr schnell und mit dem Drang, witzig zu sein. Müller wies uns darauf hin, dass die Totengräber Arbeiter waren, die unter Vertrag standen und dass sie die Absicht hatten, so wenig wie möglich zu graben. Er sagte, die Rätsel, die wir aufgaben, seien für einen Arbeiter ein äußerst intellektueller Akt und verlangten ihm große Mühe ab, und daher sollten wir lange nachdenken, bevor wir antworteten. Das Nachdenken sollten wir darstellen, indem wir die Zuschauer direkt anschauten. Dann riet er uns, neben den langsamen Bewegungen noch eine soziale Geste einzubauen, die der Art ihrer alltäglichen Arbeit entsprach. Selbst wenn wir körperlich anders gebaut waren, sollten wir die Arme so vorzeigen, dass sie eine beträchtliche Muskulatur repräsentierten, genau wie bei jemandem, der mit der Schaufel arbeitet. Ausserdem sollten alle Bewegungen so sein, als würden sie von jemandem gelenkt, sie sollten etwas Gekünsteltes, aber gleichzeitig etwas Natürliches haben. An einem warmen Augustnachmittag, und hundert Meter von der Berliner Mauer entfernt, hatte uns Heiner Müller eine Unterrichtsstunde in Brecht’schem Theater gegeben. Nach der Probe gingen wir hinunter in den Park und unterhielten uns eine Stunde lang, bis das Seminar begann. Unter anderem sprachen wir über ein Konzept, das mich als Regisseur für den Rest meines Lebens begleiten sollte. Es ging um die Tatsache, dass der Schauspieler “seine Figur führt”, sie vor den Zuschauern exponieren soll. Hinter der Figur muss der Schauspieler zu sehen sein. So etwas wie ein ‘making of’ der Figur.
Diesem Konzept begegnete ich in Deutschland häufig, bei den Proben und bei den Gesprächen mit den Schauspielern, oder ich hörte es aus dem Munde von Regisseuren. Es ist unmöglich, an das heutige deutsche Theater zu denken, ohne auf das Erbe Brechts zu stossen. Die Berliner Schauspielschule “Ernst Busch” kündigt in ihrer Broschüre an, dass man dort ausgehend von dem unterrichtet, was Stanislavsky und Brecht umrissen haben.
Auf der deutschen Bühne ist die Brecht’sche Tradition präsent, wie etwas Natürliches und Einverleibtes. Niemand sagt, „wir werden nach den Vorgaben von Brecht handeln “. Diese Vorgaben sind in der Ausbildung enthalten, im Tag für Tag. Für einen deutschen Schauspieler ist es ganz natürlich, aus der Rolle zu schlüpfen, um dem Publikum etwas zu schildern, und dann wieder zur Rolle zurückzukehren. Ein Monolog, normalerweise ein Nachdenken der Figur in einem Augenblick der Einsamkeit und der Intimität, wird schwerlich vorgetragen, ohne dass er vor den Zuschauern geöffnet und mit ihnen geteilt wird. Im deutschen Theater gibt es zahlreiche Stücke, in denen die Schauspieler Erzähler und Figuren zugleich sind. Die Bühnenbilder sind minimalistisch und das Beleuchtungskonzept ist dramaturgisch und nicht naturalistisch.
Bei der Aufführung von “Hamlet” in Zürich klingelte das Handy des Schauspielers, der ihn darstellte, mitten im berühmten Monolog “Sein oder Nicht-Sein”. Er nahm den Anruf an und sagte seinem Gesprächspartner, er befände sich gerade auf der Bühne und stelle den Hamlet dar. Gleich sei der Monolog “Sein oder Nicht-Sein” an der Reihe, und alles dauere noch mindestens zwei Stunden. Wenn alles vorbei sei, werde er zurückrufen. Nach Beendigung des Telefonats fragte er das Publikum, wo er stehen geblieben sei. Irgendjemand antwortete, und er nahm seinen Monolog wieder auf. Natürlich war all dies Teil der Inszenierung und sollte die Illusion zerbrechen und so die totale Identifizierung mit der Figur des Hamlet verhindern.
Bei der Aufführung des Stückes “Die Räuber” von Schiller an der Volksbühne in Berlin, trat eine Figur auf, die schlechte Nachrichten überbrachte, und der Schauspieler, der sie erhielt, beschimpfte ihn wütend und sagte, er bringe derartige Nachrichten nur, um ihn zu ärgern, da der Regisseur seine Figur aus den anderen beiden Akten gestrichen habe.
Das deutsche Theater ist voll von Brüchen, von unvorhergesehenen Wendungen, bei denen die Grenzen zwischen Schauspieler und Figur sehr schwach und manchmal überhaupt nicht anwesend sind. Das liegt daran, dass das Theater zu einem Spektakel erklärt wird, wobei die Darsteller und die Zuschauer einen Pakt über das sich zu entwickelnde Spektakel abschliessen. Es wird nicht so getan, als schufen wir eine Illusion oder als sei niemand da, der zuschaut. Es geht stets darum, den Zuschauer einzuladen, sich aktiv zu beteiligen, und nicht so zu tun, als spionierten wir das Leben aus, und zwar so, wie es ist, und nicht unter den Bedingungen der Bühne. Bei dem erwähnten Seminar wurde Juri Ljubimow nicht müde, zu sagen, das Theater sei ein perverses Spektakel, wenn die Schauspieler so täten, als säße da niemand in den Sesseln, und wenn die Zuschauer so täten, als seien die da oben auf der Bühne keine Schauspieler. Natürlich wurden alle Monologe des Hamlet direkt an die Zuschauer gerichtet und damit die vierte Wand durchbrochen.
Es ist auch ganz natürlich, dass man die Scheinwerfer im Bühnenbild und die echten Mauern des Theaters sieht, dass man Projektierungen benutzt, welche die dramatische Kontinuität unterbrechen, und dass man hört, wie die Figuren ihre Probleme “erzählen”. Ich erinnere mich an eine Inszenierung des Stückes “Tod eines Handelsreisenden” von Arthur Miller am Nationaltheater Mannheim, bei der bei den Übergängen von einer Szene zur anderen abwechselnd Willy Loman und seine Söhne projektiert wurden, so, als erzählten sie die Geschichte ihres Arbeitslebens in einem Büro des Arbeitsamt.
Ich glaube, das deutsche Theater hat nicht nur die Maximen Brechts in sich aufgenommen, sondern es hat sie erweitert und vertieft und neue Vorschläge angeboten. Im Stadttheater Dresden gab es zu Beginn der Aufführung des Stückes “Die Weber” von Gerhard Hauptmann einen Chor, bestehend aus 33 in den Arbeitsämtern rekrutierten Arbeitslosen. Sie trugen ihre private Kleidung und schilderten ihr Unglück und all das, was sie durchmachen mussten, um noch bis zum Monatsende zu kommen, sie schilderten die Folgen der gerade von der Regierung Schröder eingeführte Reform der Arbeit, die mangelnden Perspektiven usw. Sie schimpften offen auf den deutschen Präsidenten, auf den Präsidenten des Landes Sachsen und auf den Arbeitsminister. Dann stürzten sie sich auf einen auf der Bühne stehenden goldfarbenen Mercedes Benz, in dem die Besitzer der Fabrik saßen, und schlugen mit Baseballschlägern auf ihn ein, bis er zerstört war. Natürlich führte diese Aufführung zu einem landesweiten Skandal. Aber hervorzuheben ist die jeder Illusion entgegenwirkende Tatsache, einen Chor von Arbeitslosen auf die Bühne zu bringen, die in ihrer privaten Kleidung mit dem Akzent ihrer Region vor dem Vorhang sprechen. Wenn wir dieses Element der Inszenierung im Detail analysieren, stellen wir folgendes fest:
- Man folgte der Brecht’schen Tradition, einen Chor vor dem Vorhang auftreten und kommentieren zu lassen, was man im Stück sehen würde.
- Die Tatsache, dass dieser Chor aus echten Arbeitslosen bestand, machte das Eindringen der Realität in den Bereich der Bühne sichtbar.
- Die Arbeit mit dem Chor war äußerst sorgfältig und unterstrich infolgedessen das Künstliche dessen, was auf der Bühne geschah.
Alle diese Elemente haben wir gesehen, als wir die ästhetischen Vorschläge von Brecht aufgezählt haben.