Der Einfluss von Brecht auf die heutige Dramaturgie

Im Jahre 2001, als ich künstlerischer Direktor des Theater an der Sihl in Zürich war, gab ich der Autorin Suzanne van Lohuisen ein Stück über Che Guevara in Auftrag. Wir hatten uns nur über zwei Dinge geeinigt: der zentrale Konflikt des Stückes sollte die Tatsache sein, dass es seinen eigenen Kindern schwer fiel, zu verstehen, warum der Vater sie verlassen hatte, und außerdem sollte der Text epischer Natur sein. Hier der Anfang des Stückes.

CHE Zum Glück bin ich zu früh gestorben. /Macht einen tiefen Zug an der Zigarre.)

HILDITA „Liebe Hildita, Aleidita, Camilo, Celia und Ernesto: Wenn ihr einmal diesen Brief lesen müsst, wisst ihr, dass ich nicht mehr unter euch bin.

Ihr werdet euch kaum noch an mich erinnern, die Kleinen überhaupt nicht.

Euer Vater war ein Mann, der handelte wie er dachte und immer seinen Überzeugungen treu blieb.

Werdet gute Revolutionäre. Lernt viel, damit ihr über Techniken verfügt, die Natur zu beherrschen. Merkt euch, die Revolution ist das Wichtigste und jeder von uns als einzelner bedeutet nichts.

Vor allem bewahrt euch die Fähigkeit, jede Ungerechtigkeit, wo und gegen wen auch immer auf der Welt, aufs Tiefste zu empfinden. Das ist die schönste Eigenschaft eines Revolutionärs.

Lebt wohl, liebe Kinder, ich hoffe, euch wiederzusehen.

Ein dicker Kuss und eine herzliche Umarmung von Papa.“

Diesen Brief las meine Mutter mir vor, als ich elf Jahre alt war. Wir waren fünf – ich war die Älteste. Die anderen waren noch klein. Sie kamen viel später zur Welt und hatten eine andere Mutter. Sie konnten es nicht verstehen.

Aber ich… Ich konnte es auch nicht verstehen.

Er war schon zwei Jahre fort. Verschwunden. Und niemand wusste, wohin.

Eines Tages erschien in allen Zeitungen ein Foto von ihm. Da lag er, eine Leiche, von Kugeln durchbohrt.

Das war vor mehr als dreißig Jahren. Und seit dreißig Jahren stelle ich mir diesen Augenblick vor. Er ist für mich so lebendig, als ob ich dabei gewesen wäre.

MARIO TERAN Am 9.Oktober 1967, am frühen Nachmittag, zehn nach eins, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Menschen getötet.

Ich kann mir das Datum gut merken. Ich hatte Geburtstag. Ich wurde dreiundzwanzig.

In der Nacht feierten wir. Nicht nur, weil ich Geburtstag hatte, sondern vor allem, weil wir am Tag davor ein großes Gefecht geliefert hatten. Wir hatten eine Verbrecherbande ausgehoben.

Musik: „Hoch soll er leben“.

5

HILDITA Verbrecher. Das war mein Vater.

MARIO TERAN Ich wusste nicht, wer sie waren. Aber sicher nicht irgendjemand. Der Kommandant telefonierte ununterbrochen, die ganze Nacht mit Hinz und Kunz, mit der Regierung, mit Leuten in Amerika. Er plusterte sich auf wie ein Gockel. Er witterte sicher Beförderung.

Oder er wusste nicht, was er mit der Beute machen sollte und telefonierte deshalb soviel. Mitten in der Nacht landeten Hubschrauber, und die Offiziere besprachen sich lange. Dann wurde wieder telefoniert – was übrigens nicht einfach war. Damals gab es noch keine Handys. Wir hatten ein großes Funkgerät installiert, mit dem sie Nachrichten verschlüsselt durchgaben. Wir begriffen nur, dass wir einen guten Fang gemacht hatten.

Ich wusste nicht, wer sie waren. Mir war klar, dass sie Verbrecher waren, denn sie hatten drei Kameraden von mir getötet.

Wenn du Kameraden sterben siehst, kannst du nur zwei Dinge tun. Heulen oder saufen. Wir haben das Letztere getan.

In jener Nacht gingen wir nicht schlafen. Wir tranken. Die Kameraden sangen mir Lieder zum Geburtstag.

Die Anderen singen: „Hoch soll er leben“.

MARIO TERAN Der Kommandant kam zu uns und sagte, er habe einen Gefangenen und brauche jemanden, der ihn umbringt. Ich dachte:

„Ich bin dreiundzwanzig. Heute bin ich dreiundzwanzig. Allmählich wird es Zeit.“

Ich erhob die Hand.

Ich war nicht der Einzige. Aber weil ich Geburtstag hatte, durfte ich es machen.

Ich hatte noch nie jemanden getötet.

Folgendermaßen beginnt das Stück „Die Verschwundenen” von Ad de Bont, in dem es um den Kampf der Großmütter von der Plaza de Mayo geht, die ihre von der argentinischen Militärdiktatur geraubten Enkelkinder wiederfinden wollen:

1976

FEDERICO Am Morgen jenes Tages, an dem seine Tochter von Handlangern des Generals entführt wurde, saß Ernesto Lopez Volando vor einem der Barockspiegel im Laden des Guillermo Diaz, Friseur in Buenos Aires, und ließ sich die Haare färben.

ERNESTO Was Neues?

GUILLERMO Humberto Marijuans Hündin hat geworfen. Sie lief wochenlang leise vor sich hin röchelnd herum und war dick wie ein Fass. Eines Nachts erwachte Marijuan, weil es so seltsam still war. Er stand auf und sah, dass sie acht Junge hatte. Eines mit drei Köpfen.

ERNESTO Humberto Marijuan ist ein Fantast.

GUILLERMO Dachte ich auch.Bis er mir das Foto zeigte.

ERNESTO Die Zeit ist aus den Fugen,Guillermo. Sogar die Natur spielt verrückt.

GUILLERMO So ist es, Signor Lopez Volando. ERNESTO Sonst noch was gehört?

GUILLERMO Wegen verschwinden und so?

ERNESTO Ja.

GUILLERMO Erst die Tür zu.Überall Ohren.

ERNESTO Ja,man kann nicht vorsichtig genug sein.

GUILLERMO Fragas Tochter ist wieder zurück.

ERNESTO Seit wann?

GUILLERMO Seit ein paar Tagen.

ERNESTO Und?

GUILLERMO Sie sah gut aus.

ERNESTO Nicht gefoltert?

GUILLERMO Anscheinend nicht.

ERNESTO Gott sei Dank.Wenn ich mir vorstelle, Estela würde so etwas passieren…

GUILLERMO Geht es ihr gut, Signor Lopez Volando?

ERNESTO Bis jetzt, ja.

GUILLERMO Und Ihrem Enkel?

ERNESTO Federico geht es immer gut.

GUILLERMO Wie alt ist er?

ERNESTO Bald drei.

GUILLERMO Aber Sie machen sich Sorgen.

ERNESTO Mein Schwiegersohn sympathisierte als Student mit den Linken.

GUILLERMO Wer nicht.

ERNESTO Er hat Aktionen gegen Großgrundbesitzer gestartet. Organisierte Demonstrationen. 

GUILLERMO Wann?

ERNESTO Vor vier Jahren.

GUILLERMO Zählt das noch?

ERNESTO Alles zählt. Er war Studentenführer.

GUILLERMO Tja. Das ist etwas anderes.

ERNESTO Eben.

GUILLERMO Sind sie nicht in den Norden gegangen?

ERNESTO San Miguel de Tucuman.

GUILLERMO Sicher ruhiger.

ERNESTO Hoffte ich auch. Aber meine Tochter erzählte, dass ein Kollege von ihr, Geschichtslehrer, letzte Woche verschwunden ist…

……..

FEDERICO Als er fertig war, als seine gefärbten und mit Pomade eingeriebenen Haare über seinem Prokuristengesicht sanft glänzten, gab Ernesto Lopez Volando seinem Friseur die Hand, bevor er aus der Tür ging.

Und Guillermo Diaz, Großneffe des Generals Suáres Mason, der dreißig Jahre später, nach der Aufhebung der verhassten Amnestiegesetze, endlich wegen Vergehen gegen die Menschlichkeit vor Gericht stehen wird, verriegelte die Tür, ging zum Telefon und wählte die Nummer, die ohne weitere Bezeichnung hinten in seinem Büchlein stand.

Diese beiden Beispiele zeigen deutlich, dass es sich einerseits um ein eminent politisches Theater handelt, das andererseits in seinem Wesen episch ist.

Ich könnte noch zahlreiche weitere Beispiele zeitgenössischer deutscher Dramaturgie anführen, bei denen dies ebenfalls der Fall ist. Die beiden erwähnten Autoren sind zwar Niederländer, aber sie gehören in Deutschland zu den am meisten aufgeführten Autoren der letzten 30 Jahre. Außerdem zeichnet sich das niederländische Theater ebenso oder noch mehr als das deutsche Theater durch seine epischen Züge aus.

Man muss berücksichtigen, dass die epische Struktur dieser Stücke nicht nur der von Brecht geschaffenen gleicht, sondern dass sie sogar noch weiter geht und Aspekte benutzt, die der deutsche Autor nicht in Betracht gezogen hatte. Im ersten Stück sprechen die Figuren abwechselnd mit dem Publikum und mit den übrigen Figuren. So unterbricht Hildita den Soldaten, der dem Publikum von seiner Vergangenheit erzählt, und wirft ihm vor, er könne ihren Vater nicht als Verbrecher bezeichnen. Der Soldat kann dann weiter sprechen, ans Publikum oder an Hildita gewandt, je nachdem, was die Inszenierung entscheidet. Er kann sich mit seiner Erzählung auch abwechselnd ans Publikum und an die Tochter des Che wenden. Dies zeugt wiederum ein weiteres interessantes Element, und zwar den Bruch der Zeiten. Man springt von der Gegenwart in die Vergangenheit und von der Vergangenheit in die Gegenwart, was bedeutet, dass man ständig zwischen dem Epischen und dem Dramatischen hin und her springt. Die Trennung dieser beiden Genres ist hier nicht so deutlich wie im zweiten Text; vielmehr ergibt sie sich ganz flott innerhalb der Szene.

Beim zweiten Stück handelt es sich um ein klassischeres Modell. Federico ist die erzählende Figur. Später werden auch andere Figurn unterschiedlos die Ereignisse schildern. Auf jeden Fall ergibt sich aus der Tatsache, dass die Person erzählt, etwas anderes: die Figur ist sich der Tatsache, dass ein Publikum anwesend ist und dass es sich um die Theater-Konvention handelt. Es geht hier nicht um einen Erzähler, der sich um das “Epische” kümmert und der dann, wenn er zur Figur wird, das “Dramatische” behandelt. Die Grenze zwischen Schauspieler und Figur ist schwächer und kann daher Verwirrung stiften, wenn sich der Schauspieler dieser Tatsache nicht bewusst ist.

Auf der anderen Seite ergibt sich ein weiteres Element der Verfremdung aus der Tatsache, dass diese Stücke die Präsenz von 15 bis 20 Figuren erfordern, und doch werden sie mit etwa 5 Schauspielern aufgeführt. Das bedeutet, dass die Figuren mit großer Geschwindigkeit gewechselt werden müssen, und das geschieht oftmals vor den Augen des Publikums, oder aber, sie werden verdeckt. In beiden Fällen weiß das Publikum ganz genau, dass es sich um ein und denselben Schauspieler handelt, der verschiedene Figuren verkörpert. Auch dies führt zu einem Bruch des Ilusionismus, den auch Brecht seinerzeit benutzte, da er den Zuschauer am making of der Inszenierung teilhaben ließ.

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