Ich erinnere mich noch, dass ich mir einige Tage vor meiner endgültigen Abreise nach Deutschland in Buenos Aires ein Theaterstück für Kinder angesehen habe. Ich hatte gerade mein Regie-Studium abgeschlossen und hatte mich während meines Studiums nie für Kindertheater interessiert. Für mich war das ein unbekanntes Terrain. Während jener Vorstellung machte ich mir Notizen in einem Heft, das ich überallhin mitnahm, und ich notierte einige Schlussfolgerungen aus dem, was ich da sah: um die Kinder zu erreichen, muss man eine fantastische Welt erschaffen, mit großen Gegenständen und starken Farben, die Darstellung muss ausdrucksstark und hochtrabend sein und vor allem muss der Rhythmus schnell sein, ohne Pausen, die dazu führen, dass die Kinder abgelenkt werden. Damals war ich davon überzeugt, dass mir jene Vorstellung ein unmissverständliches und bombensicheres Rezept vermittelt hatte.
In München angekommen, besuchte ich ein Theater in der Dachauerstrasse, „Das Münchner Theater für Kinder“, und als ich Fotos von den Vorstellungen sah, fand ich ich meine Schlussfolgerungen aus der Vorstellung in Buenos Aires bestätigt.
Aber diese ganze Welt, die sich in meinem Kopf bezüglich des Kindertheaters geschaffen hatte, fiel in sich zusammen, als ich das erste Mal das „Theater der Jugend“ am Elisabethplatz in München besuchte. Ich weiss nicht mehr, warum ich mir diese Vorstellung ansah. Vielleicht hatte der Titel des Stücks, “Warten auf Godot”, meine Aufmerksamkeit geweckt. Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, bemerkte ich erst in der Halle des Theaters, dass es sich um eine Version für Kinder handelte. Gross war mein Erstaunen, als ich im Laufe der Vorstellung feststellte, dass es weder große Gegenstände noch kräftige Farben gab, und auch keine pompöse Art der Darstellung. Jene Vorstellung faszinierte mich, denn sie zerstörte alle Schemata bezüglich dessen, wie Theater für Kinder, meiner Meinung nach, auszusehen hatte. Die Form glich sehr der des Theaters für Erwachsene. Was den Inhalt angeht, so ist das Thema des Wartens bei Kindern inhärent. Man wartet darauf, anzukommen, wenn man in die Ferien fährt, man wartet auf den Geburtstag, man wartet auf den Sonnenuntergang, um Fußball spielen zu können, man wartet darauf, volljährig zu werden, man wartet, je nachdem, in welchem Land man lebt, auf den Nikolaus oder auf das Jesuskind. Ich erinnere mich noch daran, dass die Vorstellung sehr karg war, mit einfach gekleideten Schauspielern und sehr langen Pausen. Die Figuren langweilten sich, erfanden bestimmte Spiele, die sie nicht zufriedenstellten, und langweilten sich erneut.
Nach der Vorstellung strich ich alle meine Notizen im Heft mit Anmerkungen zum Theater für Kinder durch und machte neue Notizen. Ich war fasziniert. Ich hatte in jener Vorstellung etwas verstanden, was mich in Zukunft immer dann leiten würde, wenn ich mich im Theater den Kindern widmete. Es geht nicht darum, sie als Menschen mit intellektueller Behinderung zu behandeln, sie zu unterhalten und das zu reproduzieren, was wir vor vielen Jahren, als Kinder, im Theater gesehen haben. Im Gegenteil: man muss sie als Menschen ernst nehmen, ihnen Antworten für ihre Probleme geben, man muss sich mit den Fragen konfrontieren, die sie sich über die Welt, das Dasein und die Konflikte stellen, die sich aus der Sozialisierung ergeben. Nichts ist falscher als die Unterschätzung der Kinder. Kunst für Kinder muss von großen Künstlern realisiert werden, und diese müssen die Themen, welche die Kinder ebenso angehen wie die Erwachsenen, angemessen behandeln. Tod, Einsamkeit, Bullying, Vernachlässigung, Suche nach Glück, Attraktion, Eifersucht usw.
Nicht alle goßen Themen des Menschen sind den Kindern eigen, denn es gibt Themen, die nur bestimmte Altersgruppen betreffen, wie die Paarbeziehungen, das Altwerden, die Krisen im mittleren Alter, etc. Und es gibt auch Themen, die der Kindheit innewohnen, wie das Abnabeln, die Berufswahl und andere.
Im Theater für Kinder darf es keine Tabus geben. Alles, was die Kinder bewegt, muss behandelt werden. Und die Formen? Ich glaube, auch hier darf es keine Tabus geben. Schließlich gibt es einige Elemente, die einen gemeinsamen Nenner bilden können: Leichtfertigkeit, Spiel, Brüche,Mischung von Stilen. Aber widerspricht dies etwas dem Theater für Erwachsene? Vielleicht unterscheidet sich das Theater für Erwachsene vom Theater für Kinder nur in der Komplexität der Sprache, in der Länge des Stückes, in der Komplexität der Ideen und Gedanken und in Themen, die nur Kinder etwas angehen.
Vor vielen Jahren machte man eine Reportage über mich und dort sagte ich, dass ich, wenn ich Theater für Kinder mache, an die Erwachsenen denke und wenn ich Theater für Erwachsene mache, an die Kinder denke. Das bedeutet, dass man im Theater für Kinder die Erwachsenen nicht zu reinen Begleitern des jugendlichen Publikums herabstufen darf. Das beste Lob, das man mir aussprach, wenn ich bei Stücken für Kinder Regie führte, besagte, dies sei nicht nur ein Stück für Kinder. Ich glaube, man muss so ein Stück in mehreren Schichten aufbauen, wobei jede Schicht für einen anderen Zuschauer gedacht ist. Es stimmt zum Beispiel, dass Kinder gewisse Bezugnahmen auf Ereignisse aus einer anderen Epoche nicht verstehen. Es stimmt auch, dass sie Ironie meist nicht verstehen. Das heisst aber nicht, dass man diese Elemente nicht im Schauspiel benutzen darf, natürlich ohne sie zu strapazieren. Die Frage, die ich mir immer stelle, lautet, ob die Kinder der Handlung folgen können, obwohl sie einige unverständliche Bezugnahmen enthält.
Aus all diesen Gründen bevorzuge ich oftmals die Bezeichnung “Familientheater”.
Als ich im Jahre 1996 die künstlerische Leitung im “Jungen Theater Zürich“, das sich später „Theater an der Sihl“ nannte, nahm ich mir vor, ein und dasselbe Stück morgens vor Schulklassen und abends vor älteren Zuschauern zu zeigen. Dieses gewagte Experiment funktionierte schliesslich, wenn auch nicht ohne Anstrengungen. Morgens machten wir Vorstellungen für Schulklassen, von Donnerstag bis Samstag abends für Erwachsene und oftmals an den Sonntagen, am Nachmittag, für Familien. Das bedeutet, dass ein Theaterstück nicht entweder für Erwachsene oder für Kinder, sondern ab einem bestimmten Alter für Alle geeignet ist.