Wenn man mit einer Szene konfrontiert wird, muss man sich zunächst die Umstände ansehen, die bis zum Beginn der Szene geherrscht haben und die das Verhalten der Figuren beeinflussen oder bestimmen. Wir wissen, dass einige dieser Umstände vom Autor vorgegeben werden, die meisten jedoch nicht. Hier müssen wir unsere detektivischen Fähigkeiten einsetzen, um herauszufinden, was vor der Szene passiert ist: Woher kommt die Figur, wohin geht sie und welches Ziel verfolgt sie? Dies sind die grundlegenden Fragen, die wir beantworten müssen, um die Konflikte zu schärfen und den Grad der Sympathie, den die einzelnen Figuren beim Zuschauer hervorrufen können, zu nivellieren.
In dem Stück, mit dem wir uns im nächsten Online-Kurs beschäftigen werden, „Nach Guernica“ von Mariano Llorente, gibt es eine Szene, in der ein Nazi-Militärflieger mit seiner Frau am Tisch sitzt, wobei sie über den möglichen Einsatz sprechen, zu dem er in Spanien mit unbekanntem Ort und Ziel aufbrechen muss. Wann hat er davon erfahren? Verbietet ihm die Armee, diese Information mit seiner Frau zu teilen? Welchen Militärrang hat der Pilot in der Luftwaffe? Ist dies sein erster Einsatz? All diese Fragen und noch mehr verändern die Szene erheblich, je nach dem, welche Antworten wir geben. Wir sollten uns nie davon leiten lassen, was wir glauben oder fühlen, sondern davon, was zur Dramaturgie, zu den Konflikten am besten passt.
Sobald dieser erste Aspekt geklärt ist, müssen wir die Szene in Drehpunkte unterteilen. Ein Drehpunkt tritt dann ein, wenn sich die Strategie einer Figur ändert. Das bringt uns dazu, über die verschiedenen Strategien nachzudenken, die eine Figur entwickelt, um ihr Ziel zu erreichen. Das ist einer der Gründe, aber ein weiterer ist, dass man versucht, verschiedene Stimmungen innerhalb der Szene zu unterscheiden. Es wäre für den Zuschauer sehr langweilig, wenn es keine drastischen Stimmungswechsel innerhalb der Szene gäbe.
Sobald wir die Drehpunkte erkennen, müssen wir jeder Figur einen sogenannten „Vorgang“ innerhalb der Einheit zwischen den Drehpunkten geben. Das Wichtigste am Vorgang ist, dass sein Satzkern ein Verb und kein Adjektiv enthält, um dadurch den Schauspieler zur Suche nach physischen Handlungen zu bewegen, die den Spielpartner verwandeln könnten. Würden wir die Vorgänge mit Adjektiven behandeln, würden wir nach den Emotionen der Figur suchen. Das lähmt und lenkt den Blick des Schauspielers und damit den der Figur, nach innen. Sobald die Figur jedoch auf ihr Gegenüber einwirkt, kommen Emotionen auf, denn es ist unmöglich, ohne Emotionen zu handeln.
Die meisten Regisseure beschäftigen sich mit der Beschreibung des Seelenzustands der Figur, mit einer Beschreibung ihrer Emotionen. Dies kann ebenso gut Ausgangspunkt sein wie etwa eine Beschreibung der Umstände. Nur ist das nicht, was der Schauspieler für seine Suche nach Handlungsmöglichkeiten braucht. Sucht er nämlich die Emotionen der zu verkörpernden Figur auf direktem Weg, wird sich der Schauspieler vermutlich von seinem Partner entfernen, um in sich selbst nach Gefühlen zu forschen, statt eine Verbindung mit dem anderen einzugehen. Er wird seine Absichten nicht in Handlungen umsetzen.
In meinem Buch „Die Kunst der Regie“ gebe ich eine Reihe von Kriterien an, die bei der Definition des Vorgangs zu berücksichtigen sind.
Meines Erachtens ist ein Vorgang dann richtig definiert, wenn:
- ein Verb Kern des Satzes ist,
b) der Vorgang aus der Perspektive der Figur heraus definiert ist,- c) er positiv formuliert ist,
d) er in Bezug auf den anderen, den Spielpartner, definiert ist,- e) er dem Text etwas hinzufügt,
f) von ihm mögliche Handlungen ausgehen,
g) und er prägnant formuliert ist.
Bei der Festlegung der Vorgänge muss berücksichtigt werden, dass bei jedem Drehpunkt ein Wechsel der Atmosphäre stattfinden muss. Die Spannung sollte zunehmen oder aber auf einen Moment großer Aggression sollte ein Moment großer Ruhe folgen.
Es kann jedoch eine Ausnahme von dieser Regel geben. Im nächsten Online-Kurs werden wir uns mit einem Stück aus dem zeitgenössischen Theater beschäftigen, „Nach Guernica“ von Mariano Llorente, dessen Dramaturgie auf den „Shorts Cuts“ basiert. In diesem Stück folgen die Szenen in einer schwindelerregenden Abfolge aufeinander und, weil die Szenen so kurz sind, gibt es nicht immer Drehpunkte innerhalb einer Szene. Bei dieser Art von Stück müssen wir berücksichtigen, dass zwischen den Szenen abrupte Stimmungswechsel stattfinden.
Hier sind zwei Abschnitte aus zwei aufeinanderfolgenden Szenen, bei denen es unmöglich ist, Drehpunkte zwischen den Szenen zu erkennen.
PICASSO
Picasso autobiographisch Frühreif
Ritualist
Komiker
Arrogant
Saukomisch
Verwurzelt
Picasso republikanisch Antifranquist
Genial
Demiurg
Langlebig
Fruchtbar
Hermetisch
Analytisch
Afrikanisch
Realist
Magier
Allein
Dümmlich
Picasso Penis
Picasso eregiert
Picasso für alle Fälle
Wie viele Male muss ich mich noch porträtieren, damit ich mich treffe?
Ein kleines Dorf im Baskenland, Spanien, 26. April 1937.
MUTTER: Erst muss es Sommer werden. Und wenn der Sommer vorbei ist, wirst du eingeschult.
TOCHTER: Aber ich will morgen in die Schule. Ich will lernen, wo die Planeten sind. Und Geschichten schreiben will ich auch. Warum darf Andone jeden Tag in die Schule und ich nicht?
MUTTER: Weil Andone schon sechs ist und du noch nicht. Wie oft muss ich dir das noch sagen?
TOCHTER: Und wieso kann ich nicht jetzt schon sechs sein?
Obwohl es sich nicht um die ganzen Szenen handelt, wäre es nicht möglich, in der jeweiligen Szenen Drehpunkte zu erkennen. Hier müssen wir den Kontrast der Atmosphären zwischen den Szenen berücksichtigen. Diese Art der Dramaturgie zwingt uns dazu, die Momente innerhalb der Szenen nicht so genau zu unterscheiden, sondern sie im Kontrast zwischen den Szenen zu suchen.