Blog 28 „Das Kindertheater 2“

Ich möchte auf einige Aspekte des Kindertheaters näher eingehen und damit meinen ersten Blog zu diesem Thema ergänzen.

Eine meiner Thesen im ersten Blog war, dass gutes Theater für Kinder auch gutes Theater für Erwachsene ist. Ich bin davon überzeugt, dass der Grund für ein Misslingen dieses Ziels bei einem schlechten ästhetischen Ergebnis liegt. Das Stück und die dazugehörige Inszenierung müssen auch das Publikum des Abendspielplans interessieren.

Ich glaube, dass eines der großen Probleme des Kindertheaters darin besteht, dass es keine guten Kritiker gibt, die in der Presse Artikel auf hohem Niveau veröffentlichen. Wenn dies der Fall wäre, würde ein allgemeiner Konsens darüber entstehen, dass es sich um Kunst handelt, die ab einem  bestimmten Alter geeignet ist, und nicht um Kunst, die für ein bestimmtes Alter produziert wird. Ich habe das Glück, einige auf Kindertheater spezialisierte Kritiker zu kennen, die eine Ausnahme darstellen. Ich wünschte, wir hätten mehr von ihnen. Die meisten von ihnen haben jedoch eine rein didaktische Vorstellung davon, was Kindertheater sein sollte. Viele von ihnen kommen zu den Aufführungen mit einem so genannten „Testkind“. Ein Irrtum, der von der Annahme ausgeht, dass Kinder eine einheitliche Masse wären, ein Kollektiv, das den gleichen Geschmack habe, sich an die gleichen ästhetischen Kriterien halten würde und sich für die gleichen Inhalte interessieren würde, als ob Kinder im gleichen Labor geklont worden wären. Wenn das Stück, das der Kritiker sieht, dem Kind nicht gefällt, wird er eine schlechte Kritik schreiben oder umgekehrt. Kürzlich, bei meiner Premiere eines  Kindertheaterstücks in Deutschland, erzählte mir die Dramaturgin, dass der für Kindertheater zuständige Kritiker in der Regel nicht zur Premiere geht, weil er sich gerne die Aufführungen für Schulen ansieht und dann zum Gespräch mit dem Publikum bleibt. Können Sie sich vorstellen, dass ein Kunstkritiker sieht, wie die Leute beispielsweise auf Picasso reagieren, um dann eine Kritik zu verfassen? Ich erinnere mich, wie meine Mutter über Picasso schimpfte, weil sie sagte, dass sie ihn nicht versteht. Kann man sich vorstellen, dass der besagte Kunstkritiker sich beim Schreiben seiner Kommentare von der Meinung meiner Mutter leiten ließe?

Ich habe immer gesagt, dass Kinder kein einheitliches Publikum sind. In der Tat ändert sich die Wahrnehmung eines Kunstwerks durch Kinder erheblich, je nachdem, aus welcher Familie sie kommen, welche Schule sie besuchen, welches soziale Umfeld sie haben usw. Gibt es im Theater für Erwachsene nicht auch ein Publikum für den Boulevard, ein anderes für das Bauerntheater, wieder ein anderes für das Kammerspiel usw.? Warum sollte das bei Kindern anders sein? Das Problem ist, dass sie meist mit der Schule ins Theater gehen, ohne, dass auf den Geschmack des Einzelnen Rücksicht genommen wird. Ich glaube auch, dass die Sehgewohnheiten der Eltern einen viel größeren Einfluss auf das Kindertheater haben als auf das Theater für Erwachsene, denn die Eltern wollen, dass die Kinder das sehen, woran sie selbst gewöhnt sind, nämlich das, was sie selbst immer gesehen haben. Wenn Eltern mit ihren Kindern ins Theater gehen, sind sie überzeugt, dass sie etwas für die Kinder tun. Sie sehen sich selbst in der Rolle des Begleiters und sind sehr zufrieden, wenn dem Kind das Stück gefallen hat, auch wenn sie es selbst für ein langweiliges Stück hielten. Die Eltern sehen sich das Stück nicht an, sondern beobachten das Kind, um jede Sekunde zu prüfen, ob es ihm gefällt oder ob es das Stück versteht.

Öfter wollen die Eltern, dass die Kinder solche Kindertheater sehen, wie sie vor 30 oder 40 Jahren gesehen haben, z.Bsp Könige mit Umhängen, Kronen und weißen Bärten, Illusionismus in seiner besten Form.  Das Problem ist, dass sich die Welt ständig verändert. Ich erinnere mich an eine Aufführung von „Das Dschungelbuch“ von mir zur Weihnachtszeit in einem Theater in Norddeutschland inszeniert. Ich hatte die Idee, das Stück in einem Großstadtdschungel spielen zu lassen. Unter einer Autobahnbrücke waren die Wölfe Hippies, die Bob Marley hörten. Balu, der Bär, war ein Bettler, der Panther ein Punk, usw. Was für ein Aufruhr ist entstanden! Als ich an der Kasse eine Karte für einen Freund abholen wollte, der zur Premiere kam, riet die Kassiererin einer Mutter, keine Karten zu kaufen, weil auf der Bühne Marihuana geraucht würde und das nichts mit dem Film „Das Dschungelbuch“ zu tun habe. Es stimmte, es hatte nichts damit zu tun. Der Anspruch der Leute, im Theater das zu sehen, was im Film zu sehen ist, ist tief verwurzelt. Das ist natürlich ein Ding der Unmöglichkeit. Das Theater wird immer eine Nachbildung des Lebens sein, abstrakt und stilisiert. Bei der Premiere hat ein Teil des Publikums am Ende jeder Szene applaudiert und der andere Teil hat gebuht. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich eine solche Situation jemals im Abendspielplan erlebt hätte. Ich habe viele Zuschauer_innen weg gehen sehen, ich habe Buhrufe während des Applauses erlebt, aber nie gab es Streit zwischen den Zuschauer_innen während der Aufführung. Ich bin überzeugt, dass man im Kindertheater mehr provozieren kann als im Theater für Erwachsene. Natürlich wollte ich nicht provozieren und würde es auch nie tun, schon gar nicht in diesem Genre des Theaters. Es stimmt, dass ich mir damals nicht bewusst war, inwieweit sich einzelne Zuschauer_innen provoziert fühlen könnten, wenn man sich so weit von der Filmversion entfernt. Als ich mir dessen bewusst wurde, habe ich dennoch so weiter gemacht, weil ich weiß, dass es unmöglich ist, mit dem Kino zu konkurrieren, wenn es darum geht, ein Stück auf die Bühne zu bringen, das auf der Leinwand triumphiert hatte.

Wir sollten uns nicht scheuen, für Kinder anspruchsvolle Inhalte zu verlangen. Kinder haben eine enorme Fähigkeit zu philosophieren, die Erwachsene im Kampf ums tägliche Überleben verloren haben. Kinder hinterfragen die Welt, weil sie sie gerade kennenlernen. Ich bin immer fasziniert von den Diskussionen, die sich nach einer Aufführung bei den Kindern abspielen.

Auch das Kindertheater hat seine Klassiker, obwohl das Alter der Stücke nicht so weit zurück liegt wie im Erwachsenentheater. Viele von ihnen sind Stücke, die nicht als Theaterstücke, sondern als Prosa entstanden sind. Allerdings gibt es immer mehr Klassiker, auch wenn diese Stücke relativ jung sind. „Hilfe, die Herdmanns kommen“, das Stück, das wir im nächsten Onlinekurs behandeln werden, ist eines von ihnen. Es wurde jedoch in den 1970er Jahren geschrieben und ist, wie die meisten Kinderklassiker, ein literarisches Werk und vorerst kein Theaterstück gewesen.

Ein weiteres großes Problem sind die Lehrer_innen. Sie wählen die Stücke aus und gehen mit den Kindern ins Theater. Dafür gebührt ihnen mein Respekt. Es ist nicht leicht, 30 Kinder mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins Theater zu bringen. Sie laufen auch Gefahr, dass die Alarmglocken der Eltern schrillen, wenn die Kinder ihnen erzählen, was sie gesehen haben, und die Eltern möglicherweise mit einigen Inhalten nicht einverstanden sind. Heutzutage stehen Lehrerinnen und Lehrer unter großem Druck seitens der Eltern, und das ist nicht leicht. Trotzdem stelle ich fest, dass viele Lehrer_innen auch nicht von der didaktischen Vision loslassen können, die das Kindertheater begleitet. Für sie sollte das Theater eine Erweiterung des Klassenzimmers sein. Ästhetischer Genuss, Erfahrung und Emotionen zählen nicht. Am Ende zählt das, was gelernt wurde, wie in der Schule. Ich glaube, im Theater passiert genau das Gegenteil als in der Schule: man genießt und denkt nach, man „lernt“ nicht unmittelbar. Die interessanten Geschichten sind die, bei denen die Zuschauer_in nicht so leicht Partei ergreifen kann, weil es eine Reihe von Kausalitäten und Zufällen gibt, die die Figuren dazu bringen, sich so zu verhalten. Es wäre schön, wenn man auch im Kindertheater die Dualität von Gut und Böse, Held und Bösewicht, hinter sich lassen könnte.

„Hilfe, die Herdmanns kommen“ ist ein Beispiel dafür. Die Herdmanns, „freche und ungezogene“ Kinder, werden von der ganzen Nachbarschaft gefürchtet. In dem Moment, in dem sie in die Aktivitäten der Gemeinschaft einbezogen werden, ändert sich der Blick auf sie und umgekehrt. Im Allgemeinen haben die Menschen Angst vor dem, was sie nicht kennen. Dies ist eine der Überlegungen, die uns das Stück vorschlägt, und sie hat nicht mehr didaktischen Wert als bloß diese Überlegung. Wer aus dem Theater Gebote ableiten will, hat das falsche Gebäude betreten.

1 thoughts on “Blog 28 „Das Kindertheater 2“”

  1. Dem kann ich nur zustimmen. Ich saß neulich im Kaffeehaus, als mich eine Mutter einer Theaterschülerin entdeckte, die gleich auf mich zustürmte um mich zu fragen, ob es dieses Jahr endlich etwas Nettes, Lustiges geben würde – daraufhin musste ich das Nachfolgende aufschreiben:

    Immer wieder sprechen mich Eltern meiner Theaterschülerinnen darauf an, dass sie doch mal ein lustiges Stück machen sollen und nicht immer so dramatische Sachen, bei denen entweder die Polizei kommt oder gehauen, gestochen oder geschossen wird. Es gibt doch so nette Sachen, bei denen der Opa vorkommt und wo es etwas zu lachen gibt. Schließlich hat man so etwas auch erst im Frühjahr vom örtlichen Theaterverein gesehen und das war sooo lustig…

    Diese Erwartungshaltung ist verständlich. Klar möchte man den eigenen Nachwuchs als Komödiantin brillieren sehen, das ist immerhin wirklich große Kunst.

    Weshalb gibt es das im Schultheater so selten? Es ist doch etwas Schönes, von Herzen laut herauszulachen.

    Der Grund dafür ist ganz einfach. Es sind diese Geschichten von Aggression, Gewalt, Brutalität und auch Gerechtigkeit, die die Kinder erzählen wollen, vielleicht auch erzählen müssen. Wo, wenn nicht auf der Theaterbühne sollen sie die aggressiven Impulse, die jeder Mensch in sich trägt, ausleben. Doch nicht im Klassenzimmer oder sonst wie im Alltag… (Meine Schülerinnen entwickeln ihre Szenen selbst, es sind also ihre Geschichten, die sie auf die Bühne bringen)

    Und nun zum Lachen im Theater an sich. Worüber wird eigentlich meistens gelacht? Über Missgeschicke, Tollpatschigkeiten, Späße auf Kosten anderer oder sinnlosen Klamauk, bestenfalls noch Sprachspiele wie z. B. Wortverdrehungen oder lokale Anspielungen. Das kann es nicht sein, wo wir unsere Kinder hin erziehen wollen. So etwas “einzustudieren” würde eine Instrumentalisierung und damit in meinen Augen einen Missbrauch der Kinder bedeuten, den ich strikt ablehne. Und Heiterkeit und Humor scheinen den Kindern weitgehend abhanden gekommen zu sein (da liegt ja dann wiederum eine Erziehungs- und Bildungsaufgabe vor uns…)

    Es darf im Schultheater nicht darum gehen, die Bedürfnisse und Erwartungen Erwachsener zu erfüllen, das darf im Theater niemals der Fall sein, ansonsten bedient man – im Sinne Peter Brooks’ – das “Tödliche Theater”.

    (2. Oktober 2023)

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