Vor der Inszenierung muss der Regisseur immer ein Inszenierungskonzept für das Stück erarbeiten. Dies ist keine Meinung, sondern tatsächlich eine Bedingung sine qua non. Der Grund ist, dass wir uns, wenn wir während der Proben einen solchen Kompass besitzen, viele Stunden Arbeit und viele Kopfschmerzen ersparen und dass wir Klarheit darüber haben, was wir den Zuschauern erzählen möchten. Tatsächlich muss das Team wissen, was der Regisseur mit dem Stück erzählen will, welche Aspekte besonders hervorgehoben werden sollen und welche Ästhetik, welche Art der Interpretation dafür ausgewählt wurde. Unsere Aufgabe besteht darin, ein nicht einheitliches Team um ein Thema herum zu vereinen, damit das Schauspiel keine Hybride wird, weil jeder Einzelne, sei es aus Tugend, sei es aus Unzulänglichkeit, versucht, seine eigene Sicht durchzusetzen.
Es versteht sich von selbst, dass dies keine einfache Aufgabe ist. Wenn man unterschiedliche Personen für eine gemeinsame Sache gewinnen will, braucht man solide Ideen und viel Überzeugungskraft. Die Aufgabe der Regie besteht darin, das Team davon zu überzeugen, sich auf eine Reise zu begeben, bei der niemand genau weiss, ob man den sicheren Hafen erreichen wird. Peter Brook sagte einmal, der Regisseur sei so etwas wie ein Führer in der Wüste, der behauptet, zu wissen, wo sich der Ausgang befindet, auch, wenn dies nicht stimmt. Diese schöne Metapher widerspiegelt die Schwierigkeit dieser Aufgabe, die immer wieder unsere Fähigkeiten als Verkäufer, Verführer oder Visionäre auf die Probe stellt. Wenn das Team nicht glaubt, kommt man nicht vorwärts. Wenn sich zwischen Regie und Team ein Abgrund auftut, treibt das Schiff ab, und es wird eher untergehen, als dass es sicher ans Ziel gelangt.
Was ist nun genau ein Inszenierungskonzept?
Meiner Meinung nach besteht es aus zwei grundlegenden Faktoren.
Der Erste ist die Wahl des Themas, das im Stück behandelt werden soll. Im Allgemeinen spricht ein Theaterstück eine Vielzahl von Themen an, und es ist von größter Wichtigkeit, eines davon auszuwählen, auf das sich die Inszenierung konzentrieren wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die anderen Themen ausgeblendet werden. Die Frage ist, worauf der Akzent gelegt wird und worauf man die Energien konzentrieren will.
Bei der Auswahl des Themas muss man drei Faktoren berücksichtigen, sonst ist es sinnlos, mit der Erarbeitung fortzufahren.
Zunächst einmal muss das Thema dem Stück innewohnen. Es ist sinnlos, ein Thema aufzusetzen, das im Text gar nicht oder nur nebensächlich behandelt wird. Es ist absurd, ein Stück zu misshandeln, indem man ihm eine Richtung gibt, die es nicht aufweist. Das würde bedeuten, dass ich den Text eines Autors benutze, um Dinge zu erzählen, die er nicht erzählen wollte. Damit würde ich ihm mein Thema aufzwingen. Dies mus man nicht tun, denn es gibt ja in der Welt genügend Theaterstücke.
Der zweite Faktor ist, dass das von mir behandelte Thema in unserer heutigen Gesellschaft Interesse hervorrufen muss. Es hat keinen Sinn, Themen zu behandeln, die heute nicht angesagt sind, denn das Theater darf niemals nur ein lebendiges Museum sein. Theater ist interessant, wenn es sich direkt und furchtlos mit aktuellen Problemen auseinandersetzt.
Der dritte Faktor ist, dass das ausgewählte Thema den Regisseur direkt berühren muss. Man kann auf der Bühne keine objektive und wissenschaftliche Soziologiestudie darstellen. Einem solchen Stück würde es an Lebendigkeit fehlen, denn erst, wenn der Regisseur direkt emotional einbezogen ist, kommt ein lebendiges Schauspiel zustande. Dies bedeutet nicht, dass ich meine Standpunkte durchsetzen muss; vielmehr muss ich die Figuren verstehen und verteidigen, weil ich aus Erfahrung weiss, was mit ihnen geschieht.
Als ich “Ein Puppenhaus” von Ibsen inszenierte, interessierte mich etwas, das aktuell ist, etwas, das ich bei vielen Paarbeziehungen beobachte und das mich auch persönlich betroffen hat: welche Entscheidungsbefugnis haben beide Partner, wenn sie sehr über unterschiedliche Einkommen verfügen?
Dies ist ein aktuelles Thema, es geht uns etwas an, und es ist tief in das Theaterstück eingebettet. Habe ich erst einmal diese Entscheidung getroffen, muss ich das Thema in Raum und Zeit ansiedeln. Sind es Zeit und Raum des Autors? Worin besteht der Zugewinn, je nachdem, ob ich das Stück in der Zeit des Autors belasse oder ob ich es in unsere Zeit verpflanze? Ich neige im Allgemeinen dazu, es in unsere Zeit zu übertragen, um die Aktualität des Stücks deutlich zu machen.
Dasselbe geschieht mit dem Raum. Bleibe ich bei Norwegen, siedele ich das Stück in der Stadt an, in der ich es inszeniere, oder lasse ich es offen und neutral?
Je nachdem, wie ich über diese Koordinaten von Raum und Zeit entscheide, gelange ich direkt zum Bühnenbild, zu den Kostümen und zur Musik des Stückes. Mit alledem kann ich die Zeichen entwickeln, die ich dem Zuschauer vermitteln will.
Betreffs all dieser Kriterien leitet mich immer ein Satz von Meyerhold, einem Zeitgenossen von Stanislawsky und Schöpfer der Biomechanik, der unter den Zuschauern einen ironischen Text verteilte, in dem es hiess: “Bei dem, was Sie sehen werden, geht es nicht um Sie, sondern um ihren Nachbarn.”
Ich möchte mit dem Theater Dinge in Frage stellen und sie nicht konservieren, ich möchte einen Spiegel halten, der unser Elend und ein unangenehmes Bild zeigt. Diese Kriterien leiten mich bei der Erarbeitung der Inszenierungskonzepte verschiedener Stücke.