Es ist oft vom großen Einfluss die Rede, den das Meininger Theater seinerzeit auf Stanislawski ausübte, insbesondere im Hinblick auf die Ernsthaftigkeit und Tiefe, mit der gearbeitet wurde, und das Aufdecken der spirituellen Essenz der bearbeiteten Werke. Was aber für die Meininger das Ziel war, war für Stanislawski nur Mittel zum Zweck. Später nahm er eine recht kritische Haltung gegenüber den Meiningern ein und wies insbesondere auf die mangelnde Unterstützung der Schauspieler durch den Regisseur hin. Er schrieb: „Diese neuartigen Regisseure sind doch zu reinen Inszenierern geworden, die die Künstler zu Möbeln gemacht haben, zu Requisiten, zu Kleiderständern für die Kostüme, zu reinen Handlangern, zu Schachfiguren, die sie auf dem Brett ihrer Inszenierung hin und herschieben, wie es ihnen gerade passt …“ 1
Diese Beobachtung zeigt klar auf, in welche Richtung das Meininger Theater Einfluss ausübte, und zwar nicht nur in Hinsicht auf das russische Theater, sondern auch auf das anderer Länder. Wenn die Theatergeschichte vor den Meiningern von der künstlerischen Entwicklung geprägt war, hatte sich der Schwerpunkt nach den Europatourneen des Meininger Theaters auf den Wandel der Arbeitsweise des Regisseurs verlagert.
Da er sich nun gänzlich dem Regisseur unterzuordnen hatte, stand der Schauspieler nicht mehr im Zentrum des Theaters; und der Regisseur wiederum änderte nicht nur die Interpretation der Rollen nach seinem Geschmack ab, sondern griff zum Teil selbst in den Text eines Stücks ein. Vermutlich war es die Haltung „Der Regisseur ist das Theater“, die zwar so nicht wortwörtlich ausgesprochen wurde, aber doch nachweislich von den Schauspielern des Meininger Theaters vertreten wurde, die letztlich zur Entwicklung des Formalismus auf den Bühnen führte, und zwar insbesondere in Deutschland.
Meiningen machte das positive Gewicht des Regisseurs deutlich, und zwar in seiner Funktion als Organisator des Schauspiels. Meiner Ansicht nach steht das Meininger Ensemble für einen Wendepunkt im Theater. Es ist auch kein Zufall, dass Deutschland eine vorrangige Stellung im Regietheater einnimmt. Im Regietheater ist es Aufgabe des Regisseurs, eine inhaltliche Einheit zu schaffen und das Ensemble zur kreativen Arbeit unter seiner Leitung anzuregen mit dem Ziel, der gesamten Darbietung auch eine ästhetische Einheit zu verleihen.
1 Konstantin Stanislawski, „Mein Leben in der Kunst“, zitiert nach: G. N. Boiadzhiev y A. Dzhievelegov, „Historia del teatro europeo“, Ediciones Mar Océano, tomo 5, Buenos Aires 1963, S. 203